Editorial: Vom Nashorn

Editorial: Vom Nashorn

Das Rhinozeros zählt zu den am stärksten bedrohten Arten der Erde. Damit ist es aber nicht allein. Neben den einem existenziellen Risiko ausgesetzten diversen Tier- und Pflanzenarten ist auch das menschliche (Zusammen-)Leben selbst gefährdet. So verwundert es nicht, dass Bedrohungsszenarien und Verlustängste Denken und Handeln immer stärker beeinflussen. Sie verändern unsere Vorstellungen von der Welt und unseren Platz in ihr und stellen das Fortschrittsversprechen infrage. Die Dialektik der Moderne bleibt die große Herausforderung. Rhinozeros fragt: Was steht auf dem Spiel? Wie begegnen wir den Gefährdungen? Um diese Themen überhaupt verhandeln zu können, bedarf es Formen offenen und zugewandten Austauschs.

In Europa und anderen Regionen der Welt erstarken identitäre, illiberale und rassistische Ideologien, völkisches Raunen und Antiintellektualismus gewinnen an Boden. Gegen die Verlockung einfacher Antworten und reaktionäre Gesellschaftsentwürfe setzt Rhinozeros auf Anerkennung, Übersetzung und eine Öffnung zur Welt. Die Jahresschrift erkundet Zukunftsfragen in einer Konstellation verschiedener Perspektiven, Denkstile und Schreibweisen. Das Thema der ersten Ausgabe lautet ›reparieren‹. Das Zusammenleben in unserer geteilten Welt können wir nur gestalten, wenn wir zuvor nach der beschädigten Welt fragen. Denn Bedrohungserfahrungen antizipieren Gewalt und Verletzung. Nicht selten speisen sie sich auch aus diesen. Rhinozeros fragt: Was bedeutet es, etwas zu reparieren? Lässt sich Geschichte reparieren? Wie gehen wir mit dem Nichtreparablen um?

Das Nashorn ist dickhäutig und widerständig. Sein Sehvermögen ist jedoch extrem eingeschränkt. So steht es sinnbildlich für Europa, das trotz vieler Widrigkeiten mit sicherem Stand, wenn auch schwerfällig, die Zeitläufe verfolgt, die eigene Kurzsichtigkeit jedoch dringend beheben muss. Zwar stellt sich die bundesrepublikanische Gesellschaft endlich ihrer kolonialen Vergangenheit. Bisweilen hat man jedoch den Eindruck, dass das Wort von der Dekolonialisierung im politischen Jargon einer Hornbrille gleicht, die schick wirken soll, aber zu dick aufträgt. Der Blick durch ihre Gläser sollte nicht nur dem eigenen Selbstbild und der Entlastung Europas dienen. Es bleibt noch viel zu tun. Eine Politik und Poetik der Reparation ist unumgänglich. Rhinozeros fragt: Wie lässt sich das Sichtfeld weiten, wie die Fernsicht schärfen, wie die Blickrichtung wechseln? Wie werden sich dadurch Beziehungen zueinander und zur Welt verändern?

Die wenigen Nashörner, die es noch gibt, verdanken ihre Existenz konzertierten Arterhaltungsmaßnahmen. Große Landflächen werden zu ihrem Schutz eingerichtet und gepflegt, was auch anderen Arten zugutekommt, mit denen die rar gewordenen Erdbewohner ihr Habitat teilen. Diese abgegrenzten Reservate sind überlebenswichtig. Wünschenswerter wäre jedoch anderes: eine Entgrenzung des Geländes in die Weltgesellschaft. Das daraus entstehende Ökosystem zu denken, ausgehend von oikos und logos, seinen Haushalt neu zu verstehen – dazu nimmt Rhinozeros Anlauf. Die Hefte versammeln Stimmen und Ansichten, die Europa in seiner provinziellen Selbstbezüglichkeit irritieren und zu seiner neuen Einbindung in die Welt beitragen wollen. Wir hoffen, dass die Lektüre der folgenden Seiten Anlass für neue Diskussionen bietet. Mit einem Rhinozeros Salon möchten wir diese aufnehmen und Akteure der offenen Gesellschaft ins Gespräch bringen.[1]

Rhinozeros weiß: Nashörner gelten als lebende Fossilien. Das klingt nach einem Widerspruch in sich selbst. Kann man gleichzeitig veraltet und lebendig sein, überflüssig und dennoch relevant, bedroht und doch immer noch imstande, Neues hervorzubringen? In genau solchen Spannungen und Diskrepanzen sucht die Zeitschrift Stand zu finden. Rhinozeros ist gewiss kein Sprinter. Aber, immerhin, es nimmt Anlauf und sucht das Habitat eines würdevoll kurzsichtigen Mehrtonners hinter sich zu lassen, um sich auf den unsicheren Grund einer Welt im Übergang zu wagen.

[1] https://kulturstiftung.allianz.de/de_DE/foerderung-und-projekte/foerderprojekte/literatur/Rhinozeros.html.