Unvollkommenes Ganzes

01.10.2020 - Mona Kriegler

Das Atelier befand sich im Haus einer im Ruhestand lebenden Teemeisterin. Hier, unweit des kleinen, von Hügeln und Natur umgebenen japanischen Dorfs in der Nähe von Nara begann der Tag am frühen Morgen, um sieben Uhr. Mit einem rasch aufgewärmten Kaffee, der vom Vortag übriggeblieben war. Sein zunächst gewöhnungsbedürftiger Geschmack fügte sich in den Rhythmus der kommenden Wochen – als kleiner Schritt auf dem Weg zu einer grundlegenden Einsicht: Zurückhaltung und bedachtsamer Umgang mit Ressourcen sind dem sparsamen, schonenden Materialeinsatz des Kintsugi^[1] angemessen.

Kintsugi ist ein technisch-handwerkliches Verfahren zur Wiederinstandsetzung von Gegenständen: Zu Bruch gegangene Porzellan- oder Keramikstücke werden so zusammengefügt, dass ihre Bruchstellen zur Geltung kommen. Ein*e Kintsugi-Reparateur*in versucht nicht, ein Erscheinungsbild wiederherzustellen, das die ihm oder ihr anvertrauten Dinge vor ihrem Zerbrechen auszeichnete. Die Grundidee ist eine andere: Durch die Reparatur soll etwas wieder Verwendbares und zugleich etwas Neues hergestellt werden, ein Gegenstand, der sich dem Auge mit einer verwandelten Wirkung präsentiert. In diesem vielschichtigen Prozess gewinnt der Mensch, der die reparierenden Handlungen ausführt, an Bedeutsamkeit.

Seit über zehn Jahren beschäftige ich mich mit Bruchstellen, Rissen, Fragmenten, Frakturen. Mein Interesse an Brüchen und Formen der Zerbrechlichkeit und Fragilität wie meine Recherchen zum Umgang mit ihnen wurden nachhaltig von Fotografien aus dem Abu-Ghuraib-Gefängnis bei Bagdad geprägt. Im Jahr 2004, in der Zeit des Zweiten Irakkrieges, wurden sie von US-Soldaten aufgenommen, die in dem als Gefängnis der Besatzungsmacht fortgeführten Folterkomplex Dienst hatten: amateurhafte Momentaufnahmen des Grauens, die Gefangene in amerikanischer Haft zeigen. Zu sehen sind Menschen unter der Folter, mit schwarzen Kapuzen über dem Kopf. Sie stehen auf Pappkartons vor einem kommenden Schmerz. An den Fingern sind elektrische Kabel befestigt.

Die Abu-Ghuraib-Fotografien sind entwürdigend. Sie sind zugleich emotional, abstoßend und kühl, dokumentarisch. Sie zeigen: Bruchpunkte des Menschen. Die verschiedenen Dimensionen des Gebrochenseins – psychische und physische, moralische und emotionale – sind in der ikonischen Kraft dieser Bilder gefasst. Sie halten den Blick auf einen ausgelieferten und auf sich zurückgeworfenen Menschen fest und überführen zugleich die Trennung von Subjekt und Objekt in ein neues, durcheinandergebrachtes Verhältnis. Der Mensch wird hier unter der Folter angesehen, als distanziertes Subjekt und als verdinglichtes Objekt zugleich. Er wird gebrochen werden.

Bevor ein*e Kintsugi-Reparateur*in beginnt, einen Gegenstand zu reparieren, wird dieser mit geschultem Gehör und feinem Gespür studiert. Außen- und Innenseiten werden abgeklopft, um die Tiefe seiner Risse zu erfassen. Der wesentlichste Riss ist der Nyū, ein Haarriss, der herausgehört werden kann. Vom Klang geleitet, entscheidet man über das weitere Vorgehen. So kann es sein, dass ein Objekt an den Rissen entlang bewusst zerbrochen wird, um durch die Reparatur erneut strukturelle Stabilität zu erreichen. Dem Gehörsinn steht der Tastsinn zur Seite: Mit geschlossenen Augen werden in einem nächsten Schritt Glätte oder Rauheit der Materie erkundet. Auf Ohr und Hand gestützt, bewertet ein*e Reparateur*in den Stand der Arbeit: Kann sie in einer neuen Phase weitergeführt werden, oder sind die bisher ausgeführten Schritte zu wiederholen? – Um das Erreichte zu sichern.

Die Abu-Ghuraib-Bilder stellen vor Augen, was Susan Sontag den „Schmerz der anderen“ genannt hat – die Verletzung von Körpern und Rechten.^[2] Diese anderen konfrontieren alle, von denen sie betrachtet werden, mit ihrem Zusammenbruch und mit ihrer Verwundbarkeit. Und sie warten auf eine Antwort auf den stummen Schrei, der aus ihrem Schmerz entspringt. Es ist ein pochender und ein tiefer Schmerz – einer, der nicht unser eigener ist, aber der uns Verantwortung auferlegt für das Wissen um die Taten derer, die sie begehen.

Dieses Wissen ist Teil der Bildgeschichte und macht uns zu „späten Zeug*innen“. Obwohl wir als Betrachtende keine Mittäter*innen sind, werden wir dennoch belastet. Die Bilder aus einem Militärgefängnis des letzten Irakkrieges, auf den andere Kriege folgten und folgen, haben eine nachhaltige Wirkung im Unrechtsbewusstsein einer Generation entfacht. Auch im Gedächtnis unserer Zeit? Das einmal Gesehene ist ein fortwährender Appell: Das Zerbrechen des Menschen darf nicht verdrängt werden. Es ist als Bestandteil der gegenwärtigen Gesellschaft, eines Gegenwartsmenschen, sichtbar zu halten und zu reparieren.

Die Kulturtechnik des Kintsugi entdeckte ich in der gleichen Zeit, in der ich auch mit den Abu-Ghuraib-Aufnahmen konfrontiert worden war. Doch lassen sich menschliche Gebrochenheit und ihre Bilder mit zerbrochenen Gegenständen und mit einer Welt der Dinge in Beziehung setzen? Kann die Arbeit an einem zerbrochenen Behältnis achtsam der Brutalität zur Seite gestellt werden, mit der uns ein der Folter ausgesetzter Mensch – im Bild – begegnet? Wie kann man die Bruchstellen des Menschen anerkennen? Sind sie überhaupt zu reparieren? Diese Fragen ließen mich an eine besondere Qualität des Kintsugi denken: Ein mit seiner Hilfe wieder zusammengesetzter Gegenstand gesteht dem Gebrochenen eine rechtmäßige Bedeutsamkeit zu. Die Präsenz der Bruchstelle wird in einem vielschichtigen und komplexen Prozess zum Bestandteil des Neuen. In diesem ist eine nicht mehr erreichbare Unversehrtheit aufgehoben, ist jede Wahrscheinlichkeit einer ungebrochenen Ganzheit getilgt. Sie ist unwiederbringlich verloren. Und im Kintsugi auch nicht erstrebenswert. Hinter den Bruch kann der Mensch, ein Vergangenheitsmensch, als erleidender oder als regenerierender, nicht mehr zurück. Ganz gleich, ob er sich als ein Reparierender den Dingen der Welt oder den Entwürfen seiner selbst zuwendet. Ist es zu viel verlangt, zu reparieren und einander im Prozess des Reparierens zu unterstützen? Ein tiefer Riss liegt zwischen denen, die Zustände von Gebrochenheit und Leid betrachten, und denen, die brechen und leiden. Doch die eine Position kann ebenso traumatisierend sein wie die andere. Die Frage danach, wie wir überhaupt reparieren können, ist offen. Unklar ist nicht nur, wie im Vorgang der Reparatur solidarische Verbindungen zwischen Menschen und zwischen Dingen geknüpft werden können, die sich in der Zertrümmerung als Zerbrechende oder Gebrochene gegenüberstehen. Es ist auch ungewiss, ob solche Geflechte radikaler Solidaritäten, die über den Bruch hinwegreichen würden, überhaupt zu realisieren sind. Gewiss ist, dass sie unverzichtbar sind und sein werden.

Der Ursprung des traditionellen Kintsugi liegt in verschiedenen philosophischen Prinzipien, insbesondere in denen des Wabi-Sabi^[3] und des Mono no aware. Um die Praxis einer Kintsugi-Reparatur zu verstehen und um sich in dieser zu üben, ist es unverzichtbar, diese Prinzipien als Kern der Arbeit an den Dingen zu begreifen, die es zu reparieren gilt.

Die Ästhetik des Wabi-Sabi wird durch drei Prinzipien bestimmt. Erstens Imperfektion – ein*e Kintsugi-Reparateur*in strebt nicht nach Makellosigkeit, sondern beschränkt sich auf das, was möglich und machbar ist. Zweitens Vergänglichkeit – während sich ein Objekt im Prozess der Reparatur befindet, werden wir an die Möglichkeit seines Verlustes erinnert. Trotzdem – oder gerade deshalb – können wir es wieder zum Leben erwecken und weiterhin nutzen. Drittens Unvollkommenheit – durch sie wird der erneuerte Gegenstand sichtbar charakterisiert. Dieser gilt trotz – oder gerade wegen – seiner neuen Beschaffenheit als vollkommen. Er wird mit seiner Beschädigung akzeptiert und angenommen. Diese Anerkennung fügt sich in den Anspruch ein, dass auch der Mensch mit seinen Brüchen, in seiner Unvollkommenheit, als Ganzes anzuerkennen ist.

Die Philosophie des Mono no aware ist durch ein Bewusstsein für Vergänglichkeit charakterisiert. Die Einsicht, dass alles Sein einen Anfang und ein Ende hat, ist entscheidend für die metaphorische Dimension des Kintsugi.

Bei aller Bedeutung, die den Dingen zukommt, zählt doch anderes. Im Kintsugi wird die Materialität der Dinge transformiert, sie treten als Objekte in den Hintergrund. Die Aufmerksamkeit gilt dem Prozess des Zusammensetzens und Ausbesserns selbst: eine ergebnisoffene Arbeit an neuen Formen des unvollkommenen Ganzen. Und mit diesen zugleich auch der Offenheit für das in der Reparatur entstehende Neue. In komplexen Verfahren durchgeführt, beansprucht diese Arbeit eine Zeit der Entfaltung: Der Gestaltwechsel von einem zuvor da gewesenen zu einem unmittelbaren Zustand eines einzigen Stücks kann sich über drei Monate erstrecken. In diesem Übergang schaut auch ein*e Reparateur*in nicht mehr zurück, sondern nach vorn.

Die angewandte Verarbeitungstechnik ist in drei Hauptphasen organisiert, die durch verschiedene Stadien gegliedert werden: In der ersten Phase werden sieben Stadien durchlaufen und in der mittleren Vorbereitung acht. Die abschließende Aufbringung einer Metallschicht wird in nicht weniger als vierzehn Schritten vollzogen. In der Anfangsphase werden die Teile zunächst zusammengefügt. Während der mittleren Vorbereitungsphase füllt man die Bruchstellen mit Urushi, lässt ihn trocknen und entfernt den Überschuss von den Nahtstellen. Als Nächstes werden die Linien und Oberflächen mit Eichenkohle geglättet. Sollten manche Flächen mehr natürlichen Lack benötigen, ist der Vorgang zu wiederholen. Es folgt eine sorgfältige Reinigung der Oberflächen, bei der die lackierten Bereiche mit Schmirgelsteinen unterschiedlicher Körnung glattgerieben werden. Erst dann können Kuro oder Bengara Urushi, ein schwarzer oder ein roter Lack aufgetragen werden. Ist dieser Punkt erreicht, kann die Neugestaltung eines Stücks bereits als abgeschlossen gelten. Wird eine Reparatur bis zur letzten Phase fortgeführt, beginnt das Auftragen des Metalls: feinste Schichten Urushi werden appliziert, mit Metallpuder bestreut und nach einer Trockenphase mit Seidenwolle poliert.

Worauf beruht die besondere Wertschätzung eines mit Kintsugi reparierten Gegenstands? Auf seiner erneuerten, aus Fragmenten zusammengesetzten Form zum einen, und auf der so zurückgewonnenen Verwendbarkeit und Nützlichkeit zum anderen: dass eine Reisschüssel wieder mit Reis gefüllt werden, man wieder essen kann; man aus einer Teetasse, in die wieder heiße Flüssigkeit gegossen wird, wieder trinken kann; ein Mizusashi, ein Wassergefäß, in der Teezeremonie wieder Nutzen findet, indem man wieder Tee zubereiten kann.

Durch die Biografien und Reparaturprozesse, die sich hinter den reparierten Stücken verbergen, vervielfältigt sich eine Wertschätzung für diese. Das Ganzgemachte bekennt sich, und es wird als etwas, das den Prozess der Transformation durchlaufen hat, erkannt. Anerkennung geht einher mit dem Gedächtnis an etwas Vergangenes, das jetzt nicht mehr zurückgewünscht wird. Verleiht das neu Entstandene den Dingen doch etwas Unvergleichliches.

Während ich nach und nach mehr über das Verfahren und die Philosophie des Kintsugi lernte, begann ich Menschen nach ihren Bruchstellen zu fragen. Und ich fing an, Gegenstände und Städte als Körper zu sehen – als versehrte Körper: zerstörte Straßen als Narben, traumatisierte und verletzte Körper als verwundete Frakturen. Bagdad zum Beispiel: eine Stadt, die zur Szene eines Bruchs geworden war. Ein Bruch, der nicht repariert werden konnte. Denn die zerstörte Stadt, ihre Gebäude und Infrastrukturen mussten zügig wiederhergestellt werden. Das neue Stadtbild, ein Gedächtnis der Verwundung, ist Anlass für Fragen: Wie kann das Unvergleichliche in Prozessen des Wiederaufbaus im urbanen Raum erreicht werden? Indem das Dagebliebene – ein Buchladen etwa –, das in der Zerstörung Bestand hatte, hervorgehoben wird, und indem das Entstehende das Verlorene würdigt?

Wo oder was ist deine Bruchstelle?

Meinem Interesse wurde mit einer unerwarteten, überwältigenden Offenheit begegnet. So begann eine Gemeinschaftsarbeit: Rund vierzig Freiwillige brachten ihre Fähigkeiten, Fragen und Themen ein, um Vielfalt und subjektive Erfahrung des Gebrochenseins zu dokumentieren. Doch trotz aller Behutsamkeit im Umgang mit diesen menschlichen Brüchen und mit denen, die mir von ihnen berichteten, hatte ich bald das Gefühl,

nicht gerüstet zu sein.

Dennoch entstand aus diesem Prozess heraus Pain and Memory, ein Künstler*innenbuch^[4], dessen Fertigstellung zwei Videoarbeiten^[5] dokumentieren. Die von mir zusammengetragenen Bruchstellen reichten von körperlichen Schmerzen bis zu psychischen Traumata. Doch ich war weder Ärztin noch Psychotherapeutin. Ich war eine Zuhörerin, die aufzeichnete, was sie hörte, und die Begegnungen fotografisch dokumentierte. Und diejenigen, die sprachen, schenkten mir dank im Vorfeld geführter Gespräche genug Vertrauen, um mir einen direkten Blick zu gewähren. Ich lernte die Bruchstellen von Menschen kennen, mit denen ich zum Teil persönlich verbunden war. Wieder wurde ich – und nicht nur in ethischer Hinsicht – zur Verantwortung gerufen; wenn auch auf gänzlich andere Weise, als sie das Wissen um die Abu-Ghuraib-Bilder verlangte.

Im Verlauf des Projekts erwies sich das Recherchieren selbst als eine gebrochene Fertigkeit, als eine weitere Dimension des Themas Gebrochenheit. Mir wurden die Stolperfallen einer Politik der Mediation bewusst: Wer spricht über wen? Und wie? Was ist, wenn diese Artikulation einen weiteren Bruch bei denen auslöst, über die gesprochen wird? Auf welcher Grundlage wird das Gespräch geführt, mit welchem Wissen und Recherchematerial? Und was geschieht, wenn dieses nur in einer Sprache verfügbar ist, die die Recherchierenden nicht verstehen, in der sie selbst nicht lesen und schreiben können? Ist die Recherche dann nicht ebenfalls von Wissenslücken, von fehlenden Stücken und Unvollständigkeiten geprägt? Was lösen die Lückenhaftigkeit der Recherchierenden, ihr Nichtwissen und ihre Sprachlosigkeit aus? Wessen Verletzlichkeiten stehen auf dem Spiel?

Ich war überzeugt: Damit ein Mensch im Namen seiner selbst sprechen kann, braucht es sich selbst regierende Räume und eine Politik der Anerkennung des Menschen. Und ich überlegte: In der Praxis des Kintsugi geht ein*e Reparateur*in den Bruchstellen nach, mit denen es sich auseinanderzusetzen gilt. Mit anderen Worten: Nicht der Mensch, der repariert, entscheidet, was geflickt werden muss. Kann man bei der Recherche ebenso verfahren?

Vier verschiedene Arten der Kintsugi-Reparatur sind zu unterscheiden: Kin-tsugi, mit Silber flicken; Gin-tsugi, mit Gold flicken; Yobi-tsugi, mit einem ‚ausgesuchten‘oder ‚entliehenen‘ Stück flicken – also mit einem Stück eines anderen Gegenstands; und das in der Begriffsbildung auf den Freund verweisende Tomo-tsugi, bei dem Originalteile eingefügt werden und die Reparatur nicht mehr sichtbar bleibt.

Mehrere Jahre nachdem ich die Abu-Ghuraib-Bilder zum ersten Mal gesehen hatte, bat man mich in Beirut, ein großes, wertvolles antikes Gefäß zu reparieren, das – wortwörtlich – Zeuge eines Bruchs geworden war: Vor mir lag der ‚Begleitschaden‘eines Streits zwischen Geliebten, die beim Auseinanderbrechen in Eile das Haus verließen, augenblicklich und ohne Achtsamkeit für die Dinge, die sie umgaben. Ich war bewegt von dieser Geschichte und von den drei großen Bruchstücken, die es zuzuordnen, zusammenzufügen und zu flicken galt. Zwar wusste ich von Kintsugi, doch nichts über Vorgehensweise und Technik. Ich suchte den Rat erfahrener Reparateur*innen, unternahm mehrere Versuche und lernte aus der Ferne einen Menschen kennen, der später mein Lehrer werden sollte. Doch war ich nicht in der Lage, das Gefäß zu reparieren –

immer noch nicht gerüstet.

Zu dieser Zeit stand ich selbst kurz vor einem Bruchpunkt, nachdem ich den gebrochenen Zustand eines mir nahen Menschen über lange Zeit begleitet hatte. Ich hatte miterlebt, wie er von einem Geisteszustand in den nächsten verfiel, aus großer Klarheit in völlige Intransparenz wechselte und in einen zermürbenden Strudel der Unsicherheit geriet. Wir wussten nicht mehr zu unterscheiden, was von dem Getanen und Gesagten wahr und was imaginiert war und wer wen brach, während sich Gewohntes, Halt und Zusammenhänge aufzulösen begannen. ‚Den Verstand verlieren‘ war ein emotionaler und geistiger Zustand der Verworrenheit, den ich bis dahin noch nie empfunden, erlebt oder miterlebt hatte. Ein Zustand, der ebenso real war, wie es die Zustände seiner Auswirkungen waren. Und noch immer fühlte ich mich

nicht gerüstet.

Ein Jahr später brach ich nach Japan auf, um zu lernen, wie man zerbrochene Gegenstände mit Kintsugi repariert. Von jenem Lehrer, der mir in Beirut aus der Ferne zur Seite gestanden hatte.

Brüchen und Rissen und den daraus resultierenden Unterbrechungen und Lücken Geltung zu verschaffen, ihnen nachzugehen und diese zu erfassen, um sie sichtbar zu machen, hervorzuheben und zu dokumentieren, wirkte sich auf meine eigene innere Gebrochenheit aus. Ich war zugleich Augenzeugin und Reparateurin eines doppelten Bruchs, der Gebrochenheit meiner selbst und der des Gegenstands. Ich konnte arbeitend reflektieren und im Verlauf meiner Tätigkeit den eigenen Verarbeitungsprozess ebenso bedenken wie die Bruchstücke in meinen Händen.

Ebenso einzigartig wie jedes Stück und jeder Bruch ist jeder Prozess der Kintsugi-Reparatur. Damit diese gelingt, ist eine Zeit des Sichvertrautmachens mit den Dingen und der Arbeitsvorbereitung unerlässlich: Der erste Versuch muss präzise sein und kann nur in seltenen Fällen korrigiert werden.

Die brüchige Oberfläche, die ich reparierte, stand in einer Entsprechung zu meinem Blick auf ein niemals vollkommenes, als unvollständig erfahrenes und vergängliches Dasein des Menschen. Meine Behutsamkeit im Umgang mit den inneren und äußeren Flächen des mir anvertrauten Stücks antwortete auf eine Substanzialität, die nach dem Bruch nur noch als gebrochene zu haben war. Doch auch in der gegenwärtigen Zeit und ihrer Gewaltgeschichte zum Trotz sind vielfältige Wirkungshandlungen möglich, die es erlauben, sich an einem wenn auch notwendig unvollkommenen Ganzen zu orientieren. Aus den Fragmenten der Unvollständigkeit heraus gilt es einer zersprungenen, gebrochenen Vollkommenheit entgegenzustreben und zu reparieren, was der Reparatur bedarf.

Lackkunst und die Reparaturtechnik des Urushi hat sich über Jahrhunderte als wirkungsvoll, nachhaltig und dauerhaft erwiesen. Urushi ist hochgradig haftend und witterungsbeständig und wurde bereits lange vor der Erfindung des Kintsugi eingesetzt. Urushi ist ein natürliches Harz, das aus der angeschnittenen Rinde des Urushi no ki (toxicodendron vernicifluum) gewonnen wird. Jeder Lackbaum kann nur alle fünfzehn bis zwanzig Jahre angeritzt werden, damit seine Verletzungen heilen können. Die Urushi-Technik ist ein langsamer Prozess, das Gegenteil einer schnellen Reparatur mit künstlichen Materialien wie Klebstoff.

Ein Gegenmittel zur Wirkung der Abu-Ghuraib-Bilder fand ich in einem mir bis dahin unbekannten Teil der irakischen Geschichte: Einst war der Khayyat al farfuri genannte Reparateur durch Dörfer und Städte des Landes gezogen, um zerbrochene Gegenstände, Gläser, Teekannen, Teller und Lederwaren zu reparieren. Er flickte nicht nur, sondern verwendete Verbindungen aus Metall, um den Gegenständen Stabilität und eine neue Form zu geben. Metallklammern zur Reparatur von Gebrauchsgegenständen und Gefäßen kamen auch in Südostasien zur Anwendung. Später lösten Kintsugi und das Ausbessern mit Urushi den Gebrauch von Metallklammern ab, der bis heute als eigenständige Reparaturtechnik fortbesteht.

In der Konzeption meines Buchs über Schmerz und Gedächtnis führte mich die Frage nach gesellschaftlichen Reparaturen nicht nur zu Kintsugi. Sie wurde zum Einsatzpunkt einer Verquickung von Reparaturnarrativen und ging von zwei vergleichbaren Reparaturtechniken aus – dem Kintsugi und dem Khayyat al farfuri. Daraus entwickelte sich eine Praxis: das Sticken mit Faden auf Papier, beruhend auf der Vorstellung der „chirurgischen Naht“. Innere und äußere Verwundungen können durch den Vorgang des ‚Nähens‘ wieder zusammenwachsen. Was bleibt, ist eine Narbe.

Ein wichtiges Anliegen der Arbeit an diesem Brüche zusammenführenden Buch war es auch, die Menschen und Bücher der Al-Mutanabbi-Straße zu würdigen, dem Zentrum des Buchhandels in Bagdad. Im März 2007 starben in dieser Straße sechsundzwanzig Menschen durch eine Autobombe. Die Explosion zerstörte das intellektuelle und kulturelle Leben des Viertels, sein literarisches Erbe und die wirtschaftliche Infrastruktur. Auch hier bleibt: eine weitere Narbe auf dem im Zweiten Irakkrieg abermals verwundeten Körper der Stadt.

Die Konzeption der Buchseitenanordnung folgte einer Überlagerung von Brüchen: Den dokumentierten Bruchstellen der Menschen, die auf meine Frage geantwortet hatten, folgten Bruchszenen in Bagdad, die in Form von Sketchen und Skizzen aufgerufen wurden und so antworteten – als verbleibende Verbindung zu den Menschen, die ich nicht fragen konnte. Das Buch ist selbst ein unvollständiges Ganzes geworden: Es gibt Abwesende, Fragmente und Lücken, die sichtbar gemacht werden. Die Buchseiten zeigen den nachgestickten Straßenverlauf der Al Mutanabbi auf jeder der vielfältigen und abstrakten Aufnahmen menschlicher Gebrochenheit. – Das eine wird durch das andere hervorgehoben, verbunden, sich zugleich gegenseitig vor den Betrachtenden schützend.

Zu einer Einheit verbunden wird diese nach und nach aufzublätternde lose Seitenansammlung durch einen maßgefertigten, schwarz gebundenen Pappkarton, der nach einer japanischen Stoffwickelmethode gefaltet, geöffnet und wieder verschlossen werden kann. Alles nimmt seinen Platz ein, jedes Mal aufs Neue, wenn der Karton geöffnet wird, die Seiten durchgesehen und in einer sich wieder und wieder erneuernden Reihenfolge sortiert werden.

Die Arbeit mit Nadel und Faden ist eng mit Urushi verknüpft, beides sind handwerkliche Techniken. Ein in Anlehnung an den Gin-tsugi in die Stickerei eingearbeiteter Goldfaden verkörpert die metaphorische Überlagerung zweier Materialen. Goldener Faden und goldener Metallstaub wurden mein ‚Rüstzeug‘. Durch ihre jeweilige Beschaffenheit wird die mit ihnen behandelte Oberfläche, sei es einer Buchseite oder eines Gegenstandes, ausgezeichnet. Sie heben hervor, was es wahrzunehmen gilt – nicht nur mit dem Auge oder dem Geist, sondern durch eine berührende Geste. Eine Berührung weckt Gefühle und kann die Emotion einer Erinnerung vermitteln.

Die bestickten Buchseiten von Pain and Memory reflektieren den visuellen Stellenwert, der den mit Kintsugi reparierten Dingen eigen ist. Kann die mit Nadel und Faden gefertigte Nachzeichnung der Al-Mutanabbi-Straße auf dem Stadtplan von Bagdad einen Akt der Solidarität ausdrücken?

Urushi ist in allen Reparaturphasen unerlässlich. Man unterscheidet zwischen Kishomi urushi, einem transparenten Lack, Kuro urushi, einem schwarzen Lack, und Bengara oder Shu urushi, einem roten Lack. Eisenoxid oder roten Ocker geben dem Urushi seine unterschiedliche Farbe. Kishomi urushi ist die Grundlage sämtlicher Reparaturen. Es wird entweder mit Nori urushi (Reiskleber = Kleblack) oder Mugi urushi (Mehlkleister = Getreidelack) vermischt: Beide kommen seit Jahrhunderten als starke natürliche Klebstoffe zum Einsatz, die sich einzig in ihren Trocknungszeiten unterscheiden. Mit Urushi behandelte Gegenstände müssen über lange Zeit bei mindestens 25 Grad in einem geschlossenen, feuchten Behälter trocknen. Die jeweilige Trocknungsphase kann bis zu zehn Tage dauern. Hohe Feuchtigkeit fördert den Reparaturprozess.

Urushi ist ein lebendiges Material, das Enzyme enthält und wegen seiner Toxizität Allergien und Hautreizungen hervorrufen kann. Das Auftragen auf die Oberflächen verlangt nach einer staubfreien Umgebung. Staubfreie Arbeitsflächen und Werkzeuge sind jedoch ebenso wichtig wie das Wissen um eventuelle körperliche Reaktionen, bei denen die Außentemperatur und das eigene Immunsystem eine Rolle spielen und darüber entscheiden, wie lange und auf welche Weise man mit dem Material hantieren kann und ob man überhaupt befähigt ist, gebrochene Gegenstände zu reparieren.

Doch ehe ich diejenige war, die reparierte, war ich diejenige, die lernte. Am Ende meiner Lehrzeit sollte eine angesehene Maki-e-Künstlerin mich in der letzten Phase des Kintsugi unterweisen. Bevor ich lernen würde, das fein aufgetragene Metall zu polieren, lehrte mein Lehrer mich, zu lernen.

Erstens keine Warum-Fragen stellen, damit Stille Platz schafft für eine andere Form der Konzentration. Zweitens durch Hinschauen lernen: Man lässt sich das Verfahren zeigen, dann wiederholt man es. Dieses Lernen mit dem Auge, durch den Blick und durch Wiederholen bedeutete, eine von mir verinnerlichte Art des Lernens aufzugeben. Mit den Augen zuzuhören ermutigte mich, Antworten auf Fragen zu finden, die sich ohne ein Warum im Prozess des Lernens und Reparierens ergaben. Es bedeutete auch eine Abwesenheit von aber und weil. So wurde ich in einer Lehr- und Lernsprache, in einer neuen Art der Akzeptanz unterwiesen, die mir zur Reparatur der Bruchpunkte des Menschen unerlässlich scheint. Drittens gilt es in Gegenwart von Lehrenden achtsam mit Materialien umzugehen. Dies gilt als bedeutender Akt des zwischenmenschlichen Respekts und der Güte. Ebenso sollten die eigene Unwissenheit und das Nichtbegreifen akzeptiert und vorgefasste Ansichten infrage gestellt werden.

Nur in der Rolle einer Lernenden war es mir möglich gewesen, nach Japan zu reisen. Der grundlegenden Fremdheit und der Beschränkung auf die mir einzig vertrauten Techniken des Restaurierens zum Trotz. Es bildeten sich neue Vorstellungen davon aus, was ein Wiederherstellen, Rekonstruieren und Zusammenfügen auszeichnet. Kulturen des Reparierens sind grundlegend vom Ansatz einer Restaurationskultur und einer restaurativen Politik unterschieden.

Nach meiner Rückkehr war ich schließlich

gerüstet für das Erlernen neuer Reparaturprozesse. Für gegenwärtige und kommende Brüche. Mit der Aufforderung an mich selbst, die vergangenen nicht außer Acht zu lassen.

^[1] Christy Bartlett, Monika Kopplin, James-Henry Holland et al.: Flickwerk: The Aesthetics of Mended Japanese Ceramics. Münster 2008: Museum für Lackkunst; Ithaca: Herbert F. Johnson Museum of Art.

^[2] Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt am Main 2005: Fischer.

^[3] Leonard Koren: Wabi-Sabi for Artists, Designers, Poets & Philosophers. Point Reyes/CA 2008: Imperfect Publishing; ders.: Wabi-Sabi. Woher? Wohin? Weiterführende Gedanken. Berlin 2015: Wasmuth; Jun'ichirō Tanizaki: Lob des Schattens. Zürich 2010: Manesse.

^[4] Mona Kriegler: Pain and Memory. Künstler*innenbuch. Selbstpublikation (2012–2013), https://www.bookarts.uwe.ac.uk/projects/al-mutanabbi/532.htm. [aufgerufen am 28.8.2020].

^[5] Mona Kriegler: Video (2012–2020), https://vimeo.com/kintsugi.

Den vollständigen Text finden Sie in der Jahresschrift Rhinozeros vom Verlag Matthes & Seitz Berlin.